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Der Heilige Martin von Tours ist einer der beliebtesten Heiligen der Kirche; mit dem Bistum Trier verbindet ihn schon allein die Tatsache, dass er nachweislich mehrmals in der damaligen römischen Hauptstadt Trier gewesen ist und hier in der Bischofskirche immer wieder gebetet hat.
Großes Gewicht hat Martin auch deswegen, weil in jüngerer Vergangenheit viele in ihm einen frühen Vorläufer der Friedensbewegung entdeckt haben - und auch in dieser Eigenschaft hat ihn der erste Online-Auftritt des Bistums schon seit 1996 besonders gewürdigt. Drittens hat sich im Laufe der Vorbereitungen auf das Martinus-Jubiliäumsjahr gezeigt, dass viele soziale und caritative Werke der Kirche (beider großer Konfessionen) sich auf den heiligen Martin berufen oder sich nach ihm benennen: Die Geschichte davon, wie er seinen Mantel teilt, ist ein Vorbild für christliche Caritas und Nächstenliebe...
Dass wir also hier viel über Martinus erzählen, ist auch in diesem Sinne Tradition - und es ist der Tatsache geschuldet, dass der Heilige auch heute noch viel zu sagen hat.
Martinus, der spätere Bischof von Tours, lebte in einer Zeit voller Umbrüche im gesellschaftlichen und kirchlichen Leben. Das römische Reich brach unter dem Ansturm der Germanenvölker äußerlich wie innerlich zusammen.
Bis zur Konstantinischen Wende waren im römischen Reich immer wieder Christen verfolgt worden, weil sie durch ihren "Unglauben" die Sicherheit des Reiches gefährdeten: Sie beteiligten sich nicht am staatlichen Kult, der den Göttern geschuldet wurde; ihr Glaube verwehrte es ihnen, den Kaiser als Gott zu verehren oder im Krieg Menschen zu töten.
313 beendete Konstantin die Christenverfolgungen durch das Edikt von Mailand: das Existenzrecht aller Kulte wurde anerkannt. Die Kirche dankte es ihm, indem sie ihm, dem Nicht-Getauften, den Vorsitz bei den Bischofsynoden einräumte; zugleich definierte sie ihr Verhältnis zum Staat neu.
Innerkirchlich spaltete der Streit um die Gottheit Jesu die christlichen Gemeinden. Arius, Priester in Alexandrien, leugnete die Gottheit Jesu, weil Gott über Leiden und Sterben erhaben sein muss. Aber wenn Jesus nicht »eines Wesens mit dem Vater« ist, kann sein Tod am Kreuz die Menschen nicht erlösen. Darauf beharrt die Kirche (Konzil von Nizäa 325 unter dem Vorsitz Kaiser Konstantins). Konstantins Nachfolger bevorzugten mal diese mal jene Richtung; ihnen ging es vor allem um die Einheit des Reiches.
In diesen aufgewühlten Zeiten lernt Martin in jungen Jahren - nicht im Elternhaus - das Christentum kennen und entschließt sich zur Taufe. Nicht weil es gerade »in« war - das große Baptisterium vor dem Trierer Dom zeigt, wie viele Leute damals zum Christentum übertraten (wahrscheinlich ohne immer konsequent als Christen leben zu wollen); Martinus wollte bewusst Christ sein.
Ein Zeitgenosse hat viele Informationen über Martins Leben aufgezeichnet: Sulpicius Severus, etwa 20 Jahre jünger als Martin, zunächst Anwalt in Südfrankreich, entschloss sich zu einem Leben als Asket und wurde ein Freund des heiligen Martin. Noch zu dessen Lebzeiten verfasste er die »vita« (= Biographie) des Heiligen. Aber er verfolgte andere Interessen als ein moderner Historiker, so dass wir z. B. über das Geburtsjahr des Heiligen bis heute im Zweifel sind: 316 oder 336 (nur drei Daten finden die Zustimmung fast aller Gelehrten: die Bischofswahl 371, der Besuch bei Kaiser Maximus in Trier um 385 sowie Tod und Begräbnis 397).
Sulpicius Severus ging es darum, Martin als einen »zweiten Christus« darzustellen, als jemanden, der in seiner Zeit Christus transparent macht, weil er ihm konsequent nachfolgt. Die Lebensbeschreibung soll »die Leser zu weiser Lebensführung, zum himmlischen Kriegsdienst und göttlichem Tugendstreben kräftig anspornen«. Was es über St. Martin zu wissen gibt, ist zuverlässig, versichert Sulpicius Severus, aber wichtiger ist das Tun, zu dem das Wissen den Leser anspornt.
(Die kursiv gesetzten Abschnitte sind mit freundlicher Genehmigung des Kösel Verlags entnommen aus: Sulpicius Severus, Vita Sancti Martini, übersetzt von P. Pius Bihlmeyer in: Bibliothek der Kirchenväter, Band 20, München 1914)
Martin wurde wohl um 316 in Sabaria (heute Szombathely) in Ungarn als Sohn eines Militärtribuns geboren. Aufgewachsen ist er an dessen Dienstort Ticinium, dem heutigen Pavia in Oberitalien. Bereits mit zehn Jahren bewarb er sich um die Zulassung zur Taufe.
Nach kaiserlicher Verordnung mussten die Söhne der "Veteranen" 25 Jahre in der Armee dienen. Deshalb meldete ihn der Vater mit fünfzehn Jahren zum Militärdienst an. Martin diente unter Constantius II. (350-361) und Julian (355-363) in der kaiserlichen Garde, die den Beinamen "das weiße Heer" führte, wegen ihres großen weißen Uniform-Mantels. Der Mantel war aus zwei Teilen gefertigt. Der Rückenteil trug einen Schaffell-Besatz.
Vor den Toren der nordfranzösischen Stadt Amiens trifft Martin im Winter mit einem Bettler zusammen, vermutlich im Jahre 354. Er bringt es nicht über sich, an ihm vorbeizugehen wie viele andere, er hat aber auch nichts bei sich, was er ihm schenken kann: "Er trug nichts als den Soldatenmantel, ... alles übrige hatte er ja für ähnliche Zwecke verwendet. Er zog also das Schwert, ... schnitt den Mantel mitten durch und gab die eine Hälfte dem Armen, die andere legte er sich selbst wieder um. Da fingen manche der Umstehenden an zu lachen, weil er im halben Mantel ihnen verunstaltet vorkam. Viele aber, die mehr Einsicht besaßen, seufzten tief, dass sie es ihm nicht gleich getan und den Armen nicht bekleidet hatten, zumal da sie bei ihrem Reichtum keine Blöße befürchten mussten."
Zu den Soldaten zurückgekommen, hatte der Offizier Martinus sicher auch nichts zu lachen, hatte er doch in seiner Barmherzigkeit "Militäreigentum zweckentfremdet".
"In der folgenden Nacht nun erschien Christus mit jenem Mantelstück, womit der Heilige den Armen bekleidet hatte, dem Martinus im Schlafe. Er wurde aufgefordert, den Herrn genau zu betrachten und das Gewand, das er verschenkt hatte, wiederzuerkennen. Dann hörte er Jesus laut zu der Engelschar, die ihn umgab, sagen: Martinus, obwohl erst Katechumene, hat mich mit diesem Mantel bekleidet."
Das Engagement so vieler Ehrenamtlicher für die Asylanbewerberinnen und -bewerber unter uns, jede Hilfeleistung der Not- und Auslandshilfe der Caritas, die kirchlichen Hilfswerke Adveniat, Misereor, Renovabis erinnern uns immer wieder daran, dass es für Christen keine Menschen "draußen vor dem Tor" gibt.
Martin versteht diese Begegnung mit Christus als Aufforderung zur Taufe. In Amiens wird er getauft, das heißt er legt einen "Fahneneid" (lat. = sacramentum) auf Jesus Christus ab.
Vor der Konstantinischen Wende war es den Getauften nicht erlaubt gewesen, einen zweiten Fahneneid auf den heidnischen Kaiser zu leisten. Denn der Soldatendienst beschränkte sich nicht nur auf militärische Dinge, sondern umfasste auch die Teilnahme an Opfern für heidnische Gottheiten und Ehrenerweisungen für den Kaiser, der sich seit Domitian "Herr und Gott" nennen ließ.
Zusammen mit moralischen Bedenken, die sich auf das biblische Tötungsverbot bezogen, war klar: Ein Christ durfte nicht freiwillig Soldat werden. Da das römische Heer weitgehend aus Freiwilligen bestand, brauchten Christen, zumindest solange sie eine kleine Minderheit waren, nicht Soldaten zu werden. Schwierig wurde es erst, wenn ein heidnischer Soldat sich um die Taufe bewarb: durfte er weiterhin Soldat bleiben? Die ältesten Kirchenordnungen sahen vor, dass der Soldat nach der Taufe den Dienst quittierte. Auf jeden Fall waren ihm Blutvergießen und Plündern verboten (vgl. Lk 3,1).
Je mehr sich das Christentum ausbreitete, stellte sich für den Staat (zumal in Zeiten akuter Gefährdung an den Reichsgrenzen) die Frage, ob eine Religion, die ihren Anhängern das Waffenhandwerk untersagt, nicht staatsgefährdend ist. Die Kirche will nicht staatsfeindlich sein. Das ermöglichte es vielen Soldaten, auch nach ihrer Taufe im Heer zu verbleiben - sofern nicht der heidnische Staat sie aus dem Heer ausschloss bzw. vor die Wahl stellte, den Göttern zu opfern oder für Christus zu sterben.
Die vielen Soldaten-Märtyrer, aber auch die Tatsache, dass Konstantin seinem Heer christliche Symbole vorantragen ließ, zeigen, dass es inzwischen viele Soldaten christlicher Religion gab. Nachdem Konstantin unter christlichen Feldzeichen 313 den Sieg errungen hatte und dem Christentum allmählich den Rang einer Staatsreligion zukommen ließ, musste die Kirche (dankbar für ihre Ruhe und Sicherheit nach langer Verfolgungszeit!) ihre Einstellung zum Kriegsdienst ändern: "Wer im Frieden die Waffen niederlegt", so beschloss die Synode von Arles im Jahre 314(!) "soll ausgeschlossen sein."
Wie schnell passte sich "die Kirche" damals den gesellschaftlichen Gegebenheiten an - wie lange dauert es heute? Manch nachdenklicher Zeitgenosse stellt sich die Frage: Wenn Veränderungen, wer sagt, in welche Richtung es gehen soll? War die "Konstantinische Wende" der Sündenfall der Kirche schlechthin? Passte sie sich damals den gesellschaftspolitischen Veränderungen so an, dass sie die Kraft verloren hat, eine Alternative zu dem zu sein, was "man" tut?
Gemäß der neuen Regelung blieb Martin nach seiner Taufe zunächst weiterhin Soldat. Aber dann kam der Ernstfall. 356 zog Kaiser Julian (Apostata genannt, weil er, obwohl getauft, alles daran setzte, die römische Religion wieder einzuführen) in der Nähe von Worms ein Heer zusammen und begann damit, Geldgeschenke unter die Soldaten zu verteilen, um ihren Kampfeswillen anzuspornen. Jeder Soldat wurde dazu einzeln vorgerufen. Als die Reihe an Martin kam, hielt er den Zeitpunkt für günstig, als Veteran um seine Entlassung aus dem Kriegsdienst zu bitten. "Bis heute habe ich dir gedient; gestatte nun, dass ich jetzt Gott diene. Dein Geschenk mag in Empfang nehmen, wer in die Schlacht ziehen will. Ich bin ein Soldat Christi, es ist mir nicht erlaubt zu kämpfen." Daraufhin warf ihm der Kaiser voll Wut Feigheit vor dem Feind und Drückebergerei vor.
Deshalb erwidert Martin ihm:
"Will man meinen Entschluss der Feigheit und nicht der Glaubenstreue zuschreiben, dann bin ich bereit, mich morgen ohne Waffen vor die Schlachtreihe zu stellen und im Namen des Herrn Jesus mit dem Zeichen des Kreuzes, ohne Schild und Helm, furchtlos die feindlichen Reihen zu durchbrechen." Man ließ ihn also in Gewahrsam halten, damit er sein Wort wahr mache und sich waffenlos den Fremden entgegenstelle. Am nächsten Tage schickten die Feinde Gesandte zu Friedensverhandlungen und ergaben sich mit Hab und Gut.
Etwa 1200 Jahre später steht in Worms Martin Luther vor Kaiser Karl V. und verteidigt entschlossen seine Glaubensüberzeugung. Martin Luther King und die christlichen Blutzeugen vor Freislers Volksgerichtshof in der Nazizeit fallen mir da ein, wie die Frauen und Männer in Lateinamerika, die sich für die Rechte der Campesinos einsetzen und dabei ihr Leben riskieren, z. B. Oscar Romero.
Seine Liebe zu Christus hätte Martin gerne mit dem Martyrium bezeugt. Früher hätte die Kriegsdienstverweigerung möglicherweise diese Konsequenz gehabt. Aber die Zeiten haben sich geändert. Martin entschließt sich zu einem radikal christlichen Leben. Als Lehrmeister wählte er sich Hilarius, den Bischof von Poitiers. Bald darauf wurde Hilarius aber als Anhänger des Konzils von Nizäa von Kaiser Constantius II. ins Exil nach Kleinasien verbannt, ähnlich wie der Trierer Bischof Paulinus.
Auf der Mittelmeerinsel Galinaria bei Genua lernte Martin das Leben eines Einsiedlers kennen. Als er erfuhr, dass Hilarius aus der Verbannung zurück sei, reiste er ihm nach. Unter seinen Augen errichtete er in der Nähe von Poitiers, in Ligugé eine Einsiedelei und wurde von Bischof Hilarius tiefer in den katholischen Glauben eingeführt.
Um sich sammelte er eine Schar von Gleichgesinnten. Sie pflegten das gemeinsame Gebet, Schriftlesung, Meditation und bemühten sich um die Missionierung der heidnischen Landbevölkerung. Diese Ausrichtung seines Klosters: Askese verbunden mit Missions- und Entwicklungsarbeit prägte für Jahrhunderte die abendländischen Klöster: Der heilige Martin ist einer der Gründerväter des abendländischen Mönchtums.
Das Kloster des heiligen Martin ist gleichzeitig sein Priesterseminar: Als Bischof wählt er aus den Mönchen die Seelsorger der neuen Pfarreien auf dem Land. Bis in unsere Tage prägt der heilige Martin das Bild des Pfarrers (vgl. Verpflichtung zum Stundengebet, zum Zölibat).
Martins asketische Lebensführung beeindruckte die Leute in der weiten Umgebung; seine Wundermacht und seine Liebe zu notleidenden Menschen machten seine Verkündigung glaubwürdig.
371 wählen die Bürger von Tours den Mönch zu ihrem Bischof - gegen den Willen der Nachbarbischöfe, die der Meinung waren, "Martinus sei eine verächtliche Person und der bischöflichen Würden nicht würdig. Schon sein Äußeres sei so unansehnlich; er kleide sich so ärmlich und trage das Haar stets ungepflegt."
Mit List musste Martin aus seinem Kloster nach Tours gebracht werden; er selbst wollte keineswegs Bischof werden. Auch als Bischof lebte er weiterhin wie ein Mönch. Er baute sich etwa drei Kilometer außerhalb der Stadt, in Höhlen am Ufer der Loire, das Kloster Marmoutier. Arm lebte er zusammen mit 80 Mönchen die Nachfolge des armen Jesus.
Als Bischof muss Martin mehrere Male als Berater des Kaisers oder auch als Bittsteller in der Hauptstadt des Reiches gewesen sein. Das erste Mal bald nach seiner Bischofsweihe 371. In Trier heilt er den Knecht des Prokonsuls Tetradius - wie Jesus den Knecht des Hauptmanns (vgl. Mt 8, 5-13).
Hier wird gut deutlich, wie eine Legende zu verstehen ist: Es geht nicht in erster Linie um einen historischen Sachverhalt (der ist erst mühsam herauszuschälen). Vielmehr will der Verfasser zeigen: Martin ist ein richtiger Nachahmer Jesu Christi, ein "zweiter Christus". Er heilt Kranke und Besessene, erweckt einen Toten zum Leben... Den Ausgegrenzten und denen, die sich selber ausgrenzen, galt schon die Caritas Jesu.
"Zur selben Zeit wurde ein Knecht des Prokonsuls Tetradius vom Teufel ergriffen und zum Erbarmen gequält. Martinus wurde gebeten, ihm die Hand aufzulegen. Er gab den Auftrag, den Unglücklichen zu ihm zu führen. Allein, der böse Geist war auf keine Weise aus dem Zimmer zu bringen, das der Besessene bewohnte. Gegen alle, die ihm nahen wollten, fletschte er wütend die Zähne. Da warf sich Tetradius dem Heiligen zu Füßen und drang in ihn, er möge doch ins Haus kommen, wo der Besessene war. Martin erklärte, er könne das Haus eines Heiden nicht betreten...
Tetradius versprach, Christ zu werden, wenn sein Knecht vom Teufel befreit würde. Martinus legte nun dem Knecht die Hand auf und trieb den unreinen Geist aus. Als Tetradius das sah, glaubte er an den Herrn Jesus, ließ sich sogleich unter die Katechumenen aufnehmen und wurde bald danach getauft. Er brachte von da an Martinus, dem er sein Heil verdankte, grenzenlose Verehrung entgegen."
Tetradius stellte nach der Überlieferung der Abtei St. Martin sein Haus an der Mosel vor den Toren der Stadt zur Verfügung, damit Martin dort eine Kirche zu Ehren des Heiligen Kreuzes gründen konnte. Bischof Magnerich hat hier eine Kirche errichtet und dem heiligen Martin geweiht; er wurde 595 selbst darin beerdigt. Aus der dort angesiedelten Klerikergemeinschaft entwickelte sich die Abtei St. Martin.
Als der Druck von außen nachlässt, nehmen innerhalb der Kirche Richtungsstreitigkeiten zu. Priszillian, ein spanischer Theologe (seit Ende 380 Bischof von Avila), wird von spanischen Bischöfen der Irrlehren bezichtigt. Die Anhänger des Priszillian huldigten rigoristischen Moralprinzipien, vor allem in der Fastenfrage. Bischof Ithacius von Ossonoba hatte 380 auf einer Synode in Saragossa, an der auch der Bischof von Tours teilgenommen hat, die Lehre dieser "Sekte" verurteilen lassen. Beide Seiten schalteten Kaiser Gratian in die Auseinandersetzung ein. Bischof Ithacius war nach Trier geflohen; zusammen mit dem Trierer Bischof Britto klagte er Priszillian der Ketzerei und der Magie an (Magie = Schadenszauber, der auch der Person des Kaisers Maximus schaden konnte, der gerade erst seinen Vorgänger Gratian hatte ermorden lassen...). Auf Ketzerei stand nach römischem Recht die Todesstrafe. Martin lehnt die Auffassung des Priszillian ab, wehrt sich aber entschieden gegen die Todesstrafe für den Irrlehrer.
Martin begibt sich um 384 zum Kaiser, weil er der Überzeugung ist, das Schwert dürfe nicht über eine Frage der Lehre richten. Im Gegensatz zu anderen Bischöfen hatte er es bisher vermieden, den in Trier residierenden Kaiser Maximus zu besuchen. Er lehnte es ab, mit dem Mann an einem Tisch zu sitzen, der durch die Ermordung seines Vorgängers Kaiser geworden war. Auch Bischof Ambrosius von Mailand, der aus Trier stammte, hatte in dieser Frage beim Kaiser interveniert wie Martin: „es wäre ein barbarisches und unerhörtes Sakrileg, dass man einem weltlichen Richter das Urteil in einer kirchlichen Angelegenheit überließe.“
Der Kaiser versprach, Milde walten zu lassen. Aber beide Bischöfe mussten erfahren, dass der Kaiser nicht Wort hielt. Der Staatsraison folgend wurden Priszillian, zwei Kleriker, ein Dichter und die Witwe eines Rhetorikprofessors Anfang 385 in Trier (auf dem Forum oder im Amphitheater?) öffentlich hingerichtet.
Der "Blutspruch von Trier" steht am Anfang einer verhängnisvollen Entwicklung: Bei den Judenverfolgungen und bei vielen Hexenprozessen ging es letztlich darum, an den Besitz der "Ketzer" zu kommen. Wie bei Priszillian werden Geständnisse unter der Folter erpresst. Religiöse Gründe dienten schon damals lediglich als Vorwand. Den spanischen Bischöfen ging es mehr darum, den verhassten Gegner als die Irrlehre zu besiegen.
Wenige Jahre nach dem Ende der Christenverfolgung durch "Heiden" wurden zum ersten Mal in der Geschichte in Trier Christen von Christen "als Ketzer" hingerichtet. Hauptmotiv für die Entscheidung des Kaisers Maximus war: Nach der Hinrichtung der "Ketzer" konnte er ihren reichen Grundbesitz an sich ziehen.
Auf die Nachricht von der Hinrichtung der Priszillianer begab sich Martin 386 zum zweiten Mal an den Kaiserhof. Martin musste befürchten, dass auch seine asketisch lebenden Mönche in Gefahr waren, mit Priszillans Anhängern in einen Topf geworfen zu werden.
»Er kam da mitten in den Sturm des ganzen Unwetters. Die in Trier versammelten Bischöfe verweilten dort längere Zeit; sie verkehrten täglich mit Ithacius und machten gemeinschaftliche Sache miteinander. Der Kaiser hatte schon tags zuvor auf ihren Rat hin beschlossen, Beamte mit unbeschränkter Vollmacht nach Spanien zu schicken, um die Häretiker aufzuspüren, sie zu verhaften und ihnen Leben und Besitz zu nehmen. Dieser Sturm musste sicher auch die zahlreiche Schar der Mönche vernichtend treffen; man machte ja kaum einen Unterschied zwischen den einzelnen Menschenklassen; man urteilte damals nur nach dem Augenscheine, so dass einer mehr wegen seines bleichen Aussehens und seiner Kleidung als wegen seines Glaubens für einen Häretiker gehalten wurde.«
Kaiser Maximus stellt Martin vor ein Dilemma: Wenn du die Kirchengemeinschaft mit den Bischöfen, die deiner Meinung nach Priszillians Blut an den Händen haben, wieder aufnimmst, stelle ich die Verfolgung der Priszillianer ein. Wenn nicht, dann hast du ihr Blut an den Händen!
Als Martin erfuhr, dass Häscher nach Spanien ausgesandt waren, weitere Priszillianer zu verhaften und hinzurichten, eilte er noch zur Nachtzeit in den Palast. Er versprach, die Gemeinschaft mit den Bischöfen, die an Priszillians Tod schuld waren, wieder aufzunehmen, wie es der Kaiser verlangt hatte.
Am folgenden Tag fand im Trierer Dom die Weihe von Bischof Felix statt: »An diesem Tage trat Martinus in Gemeinschaft mit den Bischöfen; er hielt es für besser, für kurze Zeit nachzugeben, als die ihrem Schicksal zu überlassen, über deren Nacken schon das Schwert schwebte. Indes, so sehr auch die Bischöfe in ihn drangen, jene Gemeinschaft mit seiner Unterschrift zu bekräftigen, hierzu ließ er sich nicht bewegen.«
Mit seiner Teilnahme an der Weihe des Bischofs Felix hatte Martin für alle sichtbar die Gemeinschaft mit den übrigen Bischöfen wieder aufgenommen. Aber sein Nachgeben in dieser Frage ließ ihn nicht ruhen. Sein Gewissen quälte ihn. Fluchtartig verlässt er Trier über die Römerbrücke.
»Anderen Tages brach er rasch auf. Während der Heimreise seufzte er voll Betrübnis darüber, dass er, wenn auch nur kurze Zeit, sich in eine so verderbliche Gemeinschaft eingelassen habe. Er war nicht weit von dem Orte, der Andethanna (Niederanven) heißt; hier führte der Weg durch endlose Waldeinsamkeiten. Martinus setzte sich nieder, seine Begleiter waren etwas vorausgegangen; er dachte über die Ursache des betrübenden Vorkommnisses nach; bald warfen ihm seine Gedanken Schuld vor, bald sprachen sie ihn frei (vgl. Röm 2,15). Plötzlich stand ein Engel vor ihm und sprach: 'Martinus, mit Recht verurteilen dich Gewissensbisse; allein es gab für dich keinen anderen Ausweg. Fasse wieder Mut, werde wieder fest, sonst kommt nicht deine Ehre, sondern dein Seelenheil in Gefahr.«
In der Nähe von Niederanven, am Fuß des Senniger Berges, steht ein Denkmal, auf dem ein eher klein geratener Engel den großen Bischof tröstet. »Von jener Zeit an hütete er sich sehr, sich je wieder in weitere Gemeinschaft mit der Partei des Ithacius einzulassen. Doch da er einige Besessene langsamer als sonst und mit geringerer Wunderkraft geheilt hatte, bekannte er uns öfter mit Tränen, wegen jener verderblichen Gemeinschaft, zu der er sich für einen Augenblick aus Not, nicht aus Überzeugung herbeigelassen habe, fühle er eine Verringerung der Wunderkraft. Sechzehn Jahre lebte er noch nachher; er nahm an keiner Synode mehr teil und hielt sich von jeder Zusammenkunft der Bischöfe fern.«
Auf einer Seelsorge-Reise stirbt Bischof Martin am 8. November 397 in Candes (etwa 50 km unterhalb von Tours an der Loire gelegen) . Er war in diese Pfarrei gereist, um dort den Frieden wieder herzustellen. Mehrere Tage litt er an heftigem Fieber. Er war in ein Bußgewand auf Asche gebettet. Augen und Hände hatte er zum Himmel gerichtet. Die Priester baten ihn, er möge sich ein wenig auf die Seite legen und ein wenig bequemer betten. "Lasst mich lieber zum Himmel als zur Erde blicken, damit mein Geist, der sich schon anschickt zum Herrn zu gehen, die Richtung einhält".
Sein Begräbnis am 11. November in Tours wurde ein beeindruckendes Zeugnis seiner Beliebtheit. "Dem Martinus jubelte man zu mit göttlichen Psalmen, Martinus huldigte man mit himmlischen Gesängen ... Martinus, hier arm und demütig bescheiden, geht reich in den Himmel ein. Ich hoffe, dass er von dort aus uns beschützt, dass er auf uns herniederschaut auf mich, der ich das schreibe, und auf dich, der du es liest."
Die Verehrung des heiligen Martin setzte mit seinem Begräbnis auf dem öffentlichen Friedhof in Tours (nicht in der Bischofskirche, wie viele vermuten) ein. Schon sein Nachfolger im Bischofsamt, Bischof Brictio, ließ zum Schutz des Grabes eine Kapelle errichten. Weil der Zustrom der Pilger immer größer wurde, wurde dort 100 Jahre nach seiner Bischofsweihe eine Basilika eingeweiht. Sie war das prächtigste Bauwerk von ganz Gallien. 903 zerstörten die Normannen diese Basilika. Ihr Nachfolgebau wurde 1562 von Hugenotten schwer beschädigt, die auch die Reliquien des Heiligen bis auf wenige Ausnahmen verbrannten; der Bau verfiel dann während der Französischen Revolution. 1924 wurde die jetzige Basilika über dem Grab des Heiligen erbaut.
In der alten Kirche wurden nur Martyrer als Heilige verehrt. Bischof Martin ist der erste, der vom christlichen Volk als Heiliger verehrt wurde, obwohl er nicht den Martyrertod erlitten hat. 100 Jahre nach seinem Tod erklärt der fränkische König Chlodwig den hl. Martin bei seiner Taufe in Reims zum Patron der Franken. Viele Kirchen und Orte tragen seitdem seinen Namen.
Im Bistum Trier gibt es 75 Martinspfarreien, viele Caritas-Einrichtungen tragen seinen Namen. Wie ein roter Faden zieht sich durch sein Leben Martins Eintreten für das Leben, wo immer es bedroht ist. Viel Brauchtum ist bis heute mit seinem Festtag verbunden - das erklärt seine große Beliebtheit nicht nur bei den Kindern. Um so wichtiger ist es, die weniger bekannten Begebenheiten aus seinem Leben kennenzulernen und daraus Impulse für das Leben als Christ in der heutigen Zeit zu erhalten.
Hans-Georg Reuter