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Martin: Kriegsdienstverweigerer mit 20 Jahren?
An dieser Frage hängt auch die andere: Ist Martin 316 oder 336 geboren?
In Folge der Konstantinischen Wende (313 nChr) hat sich die Einstellung der Kirche zum Heeresdienst grundlegend verändert. Bis dahin erwartete man von Soldaten, die sich taufen ließen, dass sie möglichst schnell aus dem Heer ausschieden; so sollten sie nicht gezwungen sein, vor der Schlacht den Göttern zu opfern (= Abfall vom Glauben!) und durch das Töten im Kampf gegen das 5. Gebot zu verstoßen. Aber im Jahr 314 (also ein Jahr nach dem Toleranzedikt!) hat die Synode von Arles „bezüglich Jener, welche die Waffen im Frieden wegwerfen, entschieden, sie von der Gemeinschaft auszuschließen“. D.h. Militärdienst ist erlaubt, aber das Töten im Krieg bleibt Christen verboten.
Martin ist nach der Konstantinischen Wende geboren. Sein Biograf, der Martin persönlich kannte, überliefert das Jahr seiner Geburt nicht. Mit 15 Jahren wurde Martin vom Offizier-Vater gezwungen, ins römische Heer einzutreten, mit 18 Jahren ließ er sich nach einer Christusvision (im Traum sieht er Jesus, mit der Mantelhälfte bekleidet, die er dem Bettler vor den Toren von Amiens geschenkt hatte) taufen und blieb danach noch zwei Jahre im Militärdienst.
Demnach hat Martin im Jahr 356 vor der Schlacht bei Worms also als Zwanzigjähriger den Kriegsdienst verweigert? Dann ist er um 336 geboren – und wir feiern seinen 1700. Geburtstag 20 Jahre zu früh. Das stimmt, wenn wir seinem Biographen Sulpicius Severus glauben wollen – und andere zeitgenössische Quellen haben wir nicht. Im 4. Kapitel seiner Vita Martini lesen wir die hochdramatische Szene von Martins Ausscheiden aus dem Heer:
Deshalb sprach er zum Kaiser: "Bis heute habe ich dir gedient; gestatte nun, dass ich jetzt Gott diene. Dein Geschenk mag in Empfang nehmen, wer in die Schlacht ziehen will. Ich bin ein Soldat Christi, es ist mir nicht erlaubt, zu kämpfen". Wutschnaubend ob dieser Rede gab der Tyrann zur Antwort, er wolle sich nur aus Angst vor der Schlacht, die für den andern Tag zu erwarten war, nicht um seines Glaubens willen dem Kriegsdienst entziehen. Doch Martinus blieb unerschrocken, ja der Versuch, ihn einzuschüchtern, machte ihn nur noch fester. So sprach er: "Will man meinen Entschluss der Feigheit und nicht der Glaubenstreue zuschreiben, dann bin ich bereit, mich morgen ohne Waffen vor die Schlachtreihe zu stellen und im Namen des Herrn Jesus mit dem Zeichen des Kreuzes, ohne Schild und Helm, furchtlos die feindlichen Reihen zu durchbrechen".
Man ließ ihn also in Gewahrsam halten, damit er sein Wort wahr mache und sich waffenlos den Barbaren entgegenstelle. Am nächsten Tage schickten die Feinde Gesandte zu Friedensverhandlungen und ergaben sich mit Hab und Gut."
Die vielen Soldatenmärtyrer der Zeit vor Konstantins Toleranzedikt zeigen: Martin hätte mit seiner Kriegsdienstverweigerung sein Leben riskiert , wenn er früher geboren wäre. Wer sein Leben um des Glaubens willen opfert, wer ein Märtyrer wird, ist ein Heiliger! Martin also: ein (Fast-) Märtyrer. Sulpicius Severus will seinen Helden gut aussehen lassen.
Wir gehen heute dagegen mit guten Gründen davon aus, dass Martin am Ende seines 25jährigen Soldatendienstes (bevor es 356 zur Schlacht bei Worms kam) als Veteran aus dem Heer ausgeschieden ist – wie es die gültige Kirchenordnung vorsah. Dennoch zur großen Verärgerung von Kaiser Julian Apostata, der dem Veteranen dann auch das übliche Landgut zur Altersversorgung nicht gab. 25 + 15 = 40. Demnach ist Martin um 316 geboren, also vor 1700 Jahren.
Sulpicius Severus geht auch noch aus einem anderen Grund mit den historischen Daten ein wenig freier um: Waren die unter Konstantin stark wachsenden Gemeinden froh gewesen, prominente Bürger als Bischöfe an ihrer Spitze zu sehen, so beschloss die Synode von Rom unter Papst Siricius 386, einen Staatsbeamte oder einen Soldaten fortan nicht mehr zu kirchlichen Ämtern zuzulassen. Denn man könne nicht wissen , was er sich früher habe zu Schulden kommen lassen. „Wer kann mit Sicherheit sagen, dass er nicht den 'Spektakeln' beigewohnt hat, dass er sich freihalten konnte von Gewalttaten und von Ungerechtigkeiten, aus Habgier begangen?“
Die vita Martini des Sulpicius Severus ist eine Verteidigungsschrift! Die asketische Front hatte sich inzwischen durchgesetzt im Streit um das richtige Bischofsprofil. Wäre Martin nach 25jährigem Kriegsdienst 356 als Veteran aus dem Heer ausgeschieden (vor der Schlacht bei Worms), hätte er nach neuer Lesart niemals Bischof werden dürfen!
Sulpicius legt großen Wert darauf, dass die Bürger von Tours den Mönch Martin 371 zum Bischof gewählt haben – und zwar gerade wegen seines asketischen Lebensstils, nicht weil er früher Offizier war. Die Bischöfe, die ihn konsekrieren sollten, weigerten sich ja wegen seines Lebensstils, ihn zum Bischof zu weihen. „Sie sagten, Martinus sei eine verächtliche Persönlichkeit, der bischöflichen Würde sei nicht wert - ein Mann von so unansehnlichem Äußern, mit so armseligen Kleidern und ungepflegtem Haar“ (Vita, 9). Auch Martins späteres Eintreten für den superstrengen Asketen Priszillian, der 386 in Trier als Irrlehrer und Hexer hingerichtet werden sollte, erscheint so in einem neuen Licht.
Fazit: Wir sollten die Vita Martini des Sulpicius Severus nicht wortwörtlich, als einen Tatsachenbericht, lesen; Wie wir es beim Lesen der Bibel gelernt haben, sollten wir historisch-kritisch fragen: Für welches Publikum mit welchen Fragen hat der Autor seinerzeit sein Buch geschrieben… Dann bekommt die Figur des heiligen Martin eine neue Tiefenschärfe.
Für Sulpicius Severus ist Martin – allen möglichen Anfeindungen zum Trotz – ein Bischof ohne Tadel. In seiner Person vereinigt er alle Möglichkeiten, ein Heiliger zu werden: ein asketischer Mönch, beinahe ein Märtyrer, ein apostelgleicher Bischof (siehe die Wunder, die er wirkt). Und Sulpicius‘ Vita Martini, ein Bestseller seinerzeit, hat wesentlich dazu beigetragen, dass Martin bald nach seinem Tod als Heiliger verehrt wurde. Die Mosaiken in San Apollinare nuovo in Ravenna (um 560) zeigen Martin, den Nichtmärtyrer, wie er die Prozession der Märtyrer zu Christus hin anführt!
Uns imponiert noch heute Martins Einsatz für das Leben, wo immer es bedroht ist:
ein aktueller Heiliger, der in Ost- und Westeuropa gelebt hat und beide Teile geistig verbindet und befruchtet. Möge Europa heute auf seine Stimme hören!